Lesen Sie hier die überarbeitete Version des Artikels „Wie Sprachprofiler die Schreiber anonymer Briefe überführen“ von Patrick Rottler, der in der Ad Legendum, der Ausbildungszeitschrift für Juristen an der Universität Münster erschienen ist.
Anonymer Brief führt zu Alarm Rot
Geschäftsführer Ralf Rötgen, knallt einen Stapel Unterlagen auf den Tisch und brüllt: “So eine Scheiße darf nie wieder passieren!”. Er sieht in die betretenen Gesichter seiner Kollegen. Die Situation ist ernst! Die Halbleiterbranche ein Haifischbecken. Jedem war klar, dass die Übernahme heikel werden würde. Selbst auf oberster Ebene hatte man lange über den Sinn und Unsinn dieses Schrittes gestritten. Am Ende gab es ein Machtwort aus dem Vorstand und man hatte sich auf eine abgestimmte Kommunikation nach Abschluss der ersten Verhandlungen verständigt. So lange sollte alles top-secret behandelt werden. Ralf Rötgen zitiert aus dem anonymen Brief, das ihn am Vormittag über den zentralen Posteingang erreicht hatte:
LithioNanoTec AG
Herrn Ralf Rötgen
persönlich/vertraulich!
Sie stehen kurz davor, den größten Fehler Ihrer bis dato so bilderbuchhaften “Karriere” zu machen. Den Kauf der TamTeck werden Sie nicht “überleben”. Anstatt sich eine Spielwiese für Ihr Ego zu schaffen, sollten Sie besser das Kerngeschäft anpacken. (…) Man sieht auf den ersten Blick, dass die Zahlen geschönt, und die TamTeck deutlich überbewertet ist. Da hat noch einmal jemand “die Braut hübsch gemacht”. Dadurch wird unsere Lage nicht besser, sondern immer ernster. Das Wasser steht uns bis zum Hals. Leider lassen Sie uns keine andere Möglichkeit, das Unternehmen, seine Mitarbeiter, und letztendlich auch Sie(!) zu schützen! Geben Sie Ihre diesbezüglichen Pläne besser auf, sonst sehen wir uns gezwungen, die in der Anlage befindliche Studie in Kürze der Belegschaft zugänglich zu machen. Der Schritt in die Medien ist dann auch nicht mehr weit. Und dann waren Sie die längste Zeit der strahlende Saubermann… (…) Damit ist dann wohl alles gesagt …
Hochachtungsvoll,
besorgte Mitarbeiter
Dem anonymen Brief beigefügt war die Kopie eines internen Dokumentes der Geschäftsentwicklung, in dem von der Stilllegung einer größeren Forschungseinrichtung und der Streichung von 200 Stellen nach der Fusion ausgegangen wird.
Tatsächlich war dieser einschneidende Schritt notwendig, um das Unternehmen strategisch neu auszurichten. Das Marktumfeld hatte sich innerhalb der letzten beiden Jahre so verändert, dass ein Weiter-so in den sicheren Konkurs geführt hätte. Die Fusion mit der Firma TamTeck war ein dünner Strohhalm, um das Geschäft der LithioNanoTec im Kern zu retten und zukunftsfähig zu machen. Um den Zusammenschluss zu ermöglichen, waren im Vorfeld defizitäre Geschäftsbereiche rigoros eingestellt worden. Dabei hatten sich das Unternehmen weit innerhalb des rechtlich zulässigen Rahmens bewegt. Ralf Rötgen war sich seiner Verantwortung zu jedem Zeitpunkt bewusst und hatte seine Entscheidungen dementsprechend getroffen. Der ganze, teilweise schmerzhafte Prozess, war so sozialverträglich wie möglich aufgesetzt worden. Die dennoch drastischen Maßnahmen hatten natürlich trotzdem Verunsicherung und Angst in der Belegschaft ausgelöst. Die aktuelle Verhandlung war eine der wenigen verbleibenden Chancen. Doch der Deal war noch nicht in trockenen Tüchern. Wenn er eine Chance haben sollte zu gelingen, brauchte Rötgen Stabilität in seiner Belegschaft und jeden einzelnen seiner hoch spezialisierten Wissenschaftler. Deshalb stellte in dieser Phase jede Störung von außen eine ernste Gefahr dar. Ein Scheitern hätte 600 weitere Jobs gekostet.
Tatort Text: Einsatz für den Sprachprofiler
Dieser Fall ist ein klassischer Einsatzbereich für die Sprachprofiler des Privat Institut für forensische Textanalyse. Der Auftrag lautet: Überführen Sie den anonymen Täter! Unser Auftraggeber: Ein Unternehmen, das “stille” Ermittlungen – ohne Staatsanwaltschaft – wünscht. Unsere wichtigste Aufgabe: Klarheit schaffen! Denn neben allen strategischen Herausforderungen, vor denen Herr Rötgen jetzt steht, wäre sein größtes Problem, einen nicht identifizierten Maulwurf in den eigenen Reihen zu wissen.
Anonyme Schreiben treten in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen auf. Die aus Illustrierten ausgeschnittenen und aufgeklebten bunten Buchstabentexte sind – und waren schon immer – die absolute Ausnahme. Jede andere Form ist tägliche Praxis: handgeschrieben oder gedruckt auf Papier, per E-Mail von anonymen ausländischen Servern aus, bis hin zu Textnachrichten auf dem Smartphone, deren Absender technisch nicht zurückverfolgt werden kann.
Briefe, wie im Fall der LithioNanoTec AG, sind immer auch Spurenträger und sollten deshalb auch sorgfältig kriminaltechnisch untersucht werden. Das Sichern von Fingerabdrücken, Faserspuren oder DNA-Anhaftungen sind klassische kriminalistische Ermittlungsansätze. Genau wie die Analyse des Papiers, des Schreibmittels, der Handschrift oder des Druckverfahrens. Das Sprachprofiling verfolgt einen neuen, einen anderen Ansatz.
Durch sprachwissenschaftliche Methoden können auch Täter überführt werden, die sich der klassischen Ermittlungsmethoden bewusst sind und deshalb absichtlich tarnen oder täuschen. Genauso wie jene, die aus der Anonymität des Internets heraus bedrohen, verleumden oder erpressen. Der Sprachprofiler hat einen großen Vorteil auf seiner Seite: Ein Täter, der sein Ziel erreichen will, muss immer eines tun: er muss kommunizieren!
Gibt es einen sprachlichen Fingerabdruck?
Sprache hat immer einen persönlichen Stil. Denn Sprache ist ein hochgradig schöpferischer Prozess. Bei der Wahl jedes einzelnen Wortes, jeder Einleitung, jeder Anrede, jeder Höflichkeitsform, jeder Zeitform, jeder Redewendung, jedes Satzzeichens, jeder Groß- und Kleinschreibung, jeder Aktiv- oder Passivkonstruktion, jeder Betonung und jeder Reihenfolge, jedes Haupt- und jedes Nebensatzes, muss der Akteur Entscheidungen treffen.
Ein wesentlicher Aspekt des Sprachprofilings ist, dass wir unsere gesprochene Sprache, genau wie auch geschriebene Texte, zum größten Teil unbewusst bilden. Wir folgen dabei Mustern, die tief in uns verankert sind. Diese Muster entstehen, weil unsere Sprache von Anfang an durch unser soziales und kulturelles Umfeld geprägt wird. Beispielsweise durch unsere Eltern, die Familie, Freunde, Schule, den Beruf und nicht zuletzt durch unsere ganz individuellen persönlichen Interessen. Wir haben sie so verinnerlicht, dass wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen. Vielleicht haben auch Sie in Ihrem Umfeld Menschen, die bestimmte Formulierungen, wie zum Beispiel “nicht wirklich”, “dementsprechend ” oder “echt jetzt?” so häufig verwenden, dass Sie sich fragen, ob dem anderen diese Auffälligkeit überhaupt bewusst ist.
“Sie stehen kurz davor, den größten Fehler Ihrer bis dato so bilderbuchhaften “Karriere” zu machen.” Alleine diesen Satz hätte der Täter auf hundert verschiedene Arten und Weisen formulieren können. Hat er aber nicht. Er hat nicht formuliert: “Sie stehen kurz vor dem größten Fehler Ihres Lebens …”, er hat geschrieben “bis dato” und nicht “bis heute”, “bisher” oder “bislang”. Statt bei der Sache zu bleiben, hat er einen polemischen zweiten Halbsatz gewählt, und das Wort “Karriere” in Anführungszeichen gesetzt. Auch das hätte er nicht tun müssen. Aber macht das alleine unsere Sprache wirklich so einmalig wie ein Fingerabdruck?
Ein Fingerabdruck ist einmalig und unveränderbar. Der Kriminalist muss bei der Spurensicherung genau wissen, wo das Suchen Sinn macht. Während ein Laie auf der Tischplatte suchen würde, sucht ein Profi auch darunter. Genauso ist es bei der forensischen Textanalyse. Oft sind es die subtilen, auf den ersten Blick nicht sichtbaren Muster, die am Ende zum Täter führen. Der Kriminalist braucht für jede Oberfläche den richtigen Pinsel, das perfekte Pulver, die passende Folie und in schwierigen Fällen besonderes Licht oder Chemikalien. Beim Sichern hat er nur eine einzige Chance. Wenn er handwerklich einen winzigen Fehler macht, ist die Spur für immer verloren. Die Spuren, die der Sprachprofiler auswertet, sind robuster. Der Tattext ist dokumentiert, schwarz auf weiß, auf immer und ewig. Um Muster zu erkennen, brauchen wir kein Original. Uns genügt eine gute Kopie. So beginnt unsere Arbeit oft schon, während das Tatschreiben noch bei der Kriminaltechnik liegt.
Der „sprachliche Fingerabdruck“ hat gegenüber den Papillarlinien der Haut einen weiteren großen Vorteil: Er kann sehr viel mehr über den Täter aussagen als ein klassischer Fingerabdruck. Texte lassen zum Beispiel oft Rückschlüsse auf die Anzahl der Autoren, absichtliche Verstellungen, Muttersprache, regionale Herkunft, Altersgruppe, Geschlecht, Bildungsgrad, Kultur, Sprachfertigkeit, und unter günstigen Umständen sogar über die Ausbildung und den Beruf des Autors zu.
Der Sprachprofiler steht jedoch auch vor Herausforderungen, die der Kriminaltechniker bei der Spurensicherung nicht kennt. Fingerabdrücke sind im Wesentlichen unveränderlich. Sie können sich zwar durch Verletzungen, wie zum Beispiel Kratzer oder Schnitte, verändern, das Muster darunter bleibt jedoch erhalten. Die Schleifen, Bögen und Gabelungen, die unser Fingerabdruck schon im Kindesalter zeigt, wird er auch im hohen Alter noch aufweisen. Im Gegensatz zu den Mustern unserer Sprache. Der Textermittler weiß, dass Sprache stetigen Veränderungen unterliegt. Oder wenigstens unterliegen kann. Sprache passt sich an. Ein Leben lang. Auch sie wächst mit, aber sie verändert sich. Als Jugendliche haben wir anders gesprochen, als wir es heute tun. Eventuell sprechen wir im Job anders als zu Hause. Vielleicht sogar mit den Kollegen anders, als mit unserem Chef. Per WhatsApp kommunizieren wir anders als im Geschäftsbrief. Die gute Nachricht ist, dass sich diese Anpassungen meistens nur in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Und ab etwa dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr ist unsere Sprache in der Regel relativ stabil. Dennoch müssen wir ihre grundsätzliche Anpassungsfähigkeit bei jeder Analyse berücksichtigen.
Noch komplexer wird es bei der Frage der Einmaligkeit. Das es jeden Fingerabdruck tatsächlich nur ein einziges Mal auf der Welt gibt ist eine Theorie. Zumindest die Wissenschaft geht davon aus. Selbst bei eineiigen Zwillingen wurden bislang ausschließlich unterschiedliche Fingerspuren festgestellt. Um die Frage der Einmaligkeit mit absoluter Sicherheit zu beantworten, müsste man jeden Fingerabdruck von jedem Menschen mit jedem Fingerabdruck von jedem anderen Menschen vergleichen. Weltweit. Und dann könnte man noch die größeren Primaten mit in den Abgleich nehmen. Nur um auf Nummer sicher zu gehen.
Dass jeder Mensch auf dieser Welt ein eigenes – und vor allem nachweisbares – Sprachprofil hat, das darf angezweifelt werden. Egal ob gesprochen oder geschrieben. Unsere Lebensleistung an Wort und Text ist schlicht nicht zu erfassen. Und dank der zwangsläufigen Veränderung auch nicht in starre Muster zu packen. Deshalb gibt es auch bis heute kein Computerprogramm, kein System und keine Software, die Sprache auf dem Niveau eines halbwegs versierten Sprachprofilers auswerten kann. Keine künstliche Intelligenz auf dieser Welt ist in der Lage, sämtliche Dialekte, feinste Nuancen und die ständigen Veränderungen in der Sprache zu begreifen. Auch nicht bei den amerikanischen Geheimdiensten, wie der CIA, die bereits Millionen von US-Dollar in entsprechende Forschung gepumpt haben. Sprache ist einfach zu vielschichtig. In der Mathematik gibt es für eine Aufgabe eventuell mehrere Lösungen. Aber jede einzelne dieser Lösungen ist dann logisch nachvollziehbar, und zudem exakt bestimmbar. Für die deutsche Sprache gibt es Regeln. Viele verschiedene. Von den Regeln gibt es Ausnahmen, und dann zusätzlich oft noch zahlreiche Sonderfälle … Das eröffnet Chancen. Auch wenn man die Einzigartigkeit und Einmaligkeit grundsätzlich in Frage stellen muss, könnten wir Texte oft dennoch ganz bestimmten Personen zuordnen. Besonders treffsicher sind wir immer dann, wenn nur ein überschaubarer Kreis an Personen als Schreiber in Frage kommt. Beispielsweise, weil das anonyme Schreiben gewisse Informationen enthält, die nicht jeder wissen kann. Oder weil nur eine Hand voll Betroffener ein nachvollziehbares Motiv für einen anonymen Angriff hat.
Deshalb wäre der Begriff „Sprachlicher Fingerabdruck“, wenn man ihn überhaupt verwenden möchte, eher als Metapher zu verstehen. Sprachprofiling ist eine hoch komplexe Angelegenheit. Wie man am Tatort einen Fingerabdruck sichert und dann in eine Analyse-Software einliest, lernt man, wenn es hart auf hart kommt, auch an einem halben Tag. Doch bis ein Sprachprofiler selbständig einen anspruchsvollen Fall lösen kann, braucht es mindestens zwei Jahre Erfahrung, ein außerordentliches Talent für Sprache und Gespür für Grammatik. Eine solide Ausbildung vorausgesetzt.
Autorenbestimmung & Täterprofil
Das Sprachprofiling erweitert alle herkömmlichen Ermittlungsansätze um zwei weitere, schlagkräftige Ansätze: Wenn es einen Kreis von möglichen Tätern gibt, vergleichenden wir das anonyme Schreiben mit Textmaterial von jedem einzelnen der Verdächtigen. Wer von ihnen hat den anonymen Brief geschrieben? War es der Tatverdächtige A, B oder C? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit? Oder war es keiner von den dreien? Das ist die Hauptaufgabe der Sprachprofiler am Privat Institut für forensische Textanalyse. Dazu steht uns ein breites Spektrum an sprachwissenschaftlichem Sezierbesteck zur Verfügung. Mit jedem Fall, den wir hier gemeinsam bearbeiten, werden Sie eine weitere Facette unserer Arbeit kennen lernen.
Täterprofile bestimmen wir nur, wenn mögliche Verdächtige oder Vergleichstexte fehlen. Ausgehend von sprachlichen Merkmalen im Text versuchen wir dann, dem Täter ein Gesicht zu geben. Auf das Fallwissen darum herum achten wir dabei im ersten Schritt nicht. Was zählt ist nur das Wort. Nicht der Inhalt! Wie könnte der Täter hinter dem Text aussehen? In welchem Alter könnte er sein? Aus welchem Umfeld könnte er stammen? Dabei versuchen wir aus dem Text Rückschlüsse zu ziehen, die auch die Anzahl der möglichen Verdächtigen eingrenzen soll. Das kann auf der Suche nach dem anonymen Angreifer eine wertvolle Hilfe sein.
Die große Herausforderung ist, dass 99 Prozent aller Formulierungen, Satzkonstruktionen oder Argumentationsstrukturen keine Rückschlüsse auf Alter, Geschlecht und Bildungsgrad des Urhebers zulassen. Das verbleibende eine Prozent aber eben schon. Wenn etwa jemand in der persönlichen Anrede das Wort „Du“ groß schreibt, ist das ein Indiz dafür, dass der Autor schon etwas älter sein könnte. An die 40 Jahre oder darüber. Denn sein Spracherwerb lag mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit deutlich vor der Rechtschreibreform 1996. Das wäre eine der einfachsten Übungen. Wobei auch dieses Indiz durch weitere Befunde abgesichert werden müsste. So simpel bleibt es aber natürlich nicht. Deshalb kommen bei der Erstellung von Täterprofilen Datenbanken zum Einsatz, die Sprache und den Wortschatz fortlaufend wissenschaftlich dokumentieren. Zum Beispiel die Wortschatz-Datenbank der Universität Leipzig oder das Korpus des Instituts für Deutsche Sprache.
Hier ein kleines Beispiel auf „Alltagsniveau“ heruntergebrochen: Stell dir vor, du bist heute 25 Jahre alt. Dann kommen dir Worte, wie Fotoapparat, SMS oder CD fremd vor. Sie wären von dir und deiner Generation so weit entfernt wie im Alphabet das A vom Z. Wenn du heute 35 oder 45 Jahre alt bist, wirst du nicht darüber stolpern. Und wenn du heute 70 Jahre alt bist, dann störst du dich vielleicht daran, dass ich dich gerade duze. Jede Zeit hat ihre Sprache. Sprache enthält immer Spuren aus der Vergangenheit und diese lassen sich zurückverfolgen! Was durch Profiling realistisch möglich ist und wo die Grenzen liegen, auch dazu werden wir noch kommen.
Täter, die im Text bewusst tarnen und täuschen
In der praktischen Fallarbeit haben wir es auch mit Tätern zu tun, die ihre Sprache absichtlich verstellen. So wird beispielsweise gerne versucht, durch gebrochenes Deutsch und bewusst eingebaute Fehler, einen ausländischen Ursprung vorzutäuschen. Oder es werden falsche Fährten gelegt. Dazu werden Sie noch zwei besonders spannende Fälle lesen.
Häufig wird – wie auch im Erpresserschreiben an die LithioNanoTec – die “Wir-Form” verwendet, mit der Einzeltäter versuchen, ihre Spuren zu verschleiern oder ihrer Aussage mehr Gewicht zu geben. Das ist in der Praxis sogar der häufigste Täuschungsversuch. Gleichzeitig auch der schlechteste. Grundsätzlich gilt: Ein Täter kann nur verstellen, was ihm auch bewusst ist! Und da Sprache eben zu einem sehr hohen Anteil unterbewusst abläuft, bleiben in der Regel am Ende dann doch genug sprachliche Spuren übrig, um die Täterschaft zu beweisen.
Wenn ein Täter versucht zu tarnen oder zu täuschen, ist das praktische, dass er das in der Regel nur auf einer Ebenen tut. Weil ihm alle anderen nicht bewusst sind. Beispielsweise wählt er andere, als für ihn übliche Formulierungen oder gestaltet seine Schreiben optisch anders, als er es für gewöhnlich tut. Setzt Anschrift, Datum, Betreff, Absätze oder Absenderangaben entgegen seiner üblichen Gepflogenheiten oder verzichtet ganz darauf. Wir untersuchen aber jeden Text auf mehreren Ebenen. Das heißt, in der Praxis bleibt immer etwas übrig, was uns weiter Richtung Wahrheit bringt. Außerdem hat die Erfahrung gezeigt, dass Verstellungsversuche nicht durchgängig durchgehalten werden. Irgendwann fällt der Täter immer aus dem Muster. Und spätestens, wenn es um die Forderung geht, wird sein Deutsch dann wieder besser. Ganz einfach, weil er verstanden werden will. Dazu kommt, dass Verstellung nur in eine Richtung möglich ist: Der Täter kann sich schon Mal nicht schlauer stellen, als er ist. Die Vorteile sind auf der Seite der Sprachprofiler. Ob ein Nachweis geführt werden kann oder nicht, ist am Ende oft nur eine Frage der zur Verfügung stehenden Textmenge. Je mehr Tattext und je mehr Vergleichstext, desto besser für unsere Ermittlungen.
Wie Sprachprofiler Klarheit schaffen
Der Begriff „Forensische Linguistik“ taucht erstmals 1968, in der Veröffentlichung a case for forensic linguistics, von Jan Svartvik auf. Darin beschreibt er den Einsatz linguistischer Methoden, um den Fall eines Serienmörders zu untersuchen. Wichtige Publikationen im deutschsprachigen Bereich folgen dann ab den 1980er Jahren. Beispielsweise, 1981, Der Linguist als Gutachter bei Gericht, von Hannes Kniffka. Kniffka hat bereits in den 70er Jahren, an der Universität Köln linguistische Gutachten erstellt und gilt als Gründer der forensischen Linguistik im deutschsprachigen Raum. Bei der Textanalyse wird heute noch nach den sprachwissenschaftlichen Grundsätzen gearbeitet, die er entwickelt und etabliert hat.
Der wichtigste Ausgangspunkt jeder Analyse ist immer das anonyme Schreiben. Dieses zerlegen wir in seine sprachlichen Einzelteile. Wie ein Arzt bei der Anamnese erheben wir einen Befund. Wir beschreiben den Text. Aus welchen Mustern er sich zusammensetzt. Wir sezieren jedes Detail. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Zeichen für Zeichen, Punkt für Punkt. So schlüsseln wir Sprachmuster auf und machen diese nachvollziehbar. Dabei setzen wir auch Software ein, die uns hilft, unsere „manuellen“ Analysen zu objektivieren. Aber unter dem Strich bleibt Sprachprofiling Handarbeit. Oder besser gesagt: Hirnarbeit. Bis die künstliche Intelligenz so weit ist, ist der menschliche Auswerter unverzichtbar. Und vermutlich wird er es auch danach so bleiben. Weil unsere Sprache vielschichtig und komplex ist, tun sich Maschinen schwer, sie zu erfassen. Das erkennen wir jeden Tag schon allein daran, wie oft uns die Autokorrektur unseres Smartphones korrigieren möchte, und damit einiges eher komplizierter macht als besser. Auch wenn es Regeln für jede Sprache gibt, sind diese am Ende nichts anderes, als von Menschen unternommene Versuche, Sprache zu verstehen. Aber Sprache bleibt wandelbar und zu individuell.
Bei unserer Analyse wird dann jeder Befund ausführlich dokumentiert, erklärt und so nachvollziehbar gemacht. Deshalb sind unsere Gutachten schnell mal mehrere hundert Seiten lang. Wie ist der anonyme Brief aufgebaut? Welche Gestaltungselemente kommen vor? Wie sieht die Textgliederung aus? Wie sehen Adressen, Anreden, Datumsangaben und Abschlussgruß aus? Wo werden die Regeln der Rechtschreibung befolgt, wo dagegen verstoßen? Gibt es Auffälligkeiten bei der Zeichensetzung? Wird die Grammatik richtig angewendet? Zum Beispiel bei der Zeitform? Oder bei der Anpassung von Nomen an den richtigen Fall? Arbeitet der Autor mit Einschüben? Wie komplex ist sein Satzbau? Wie tief ist der Wortschatz? Wie der Einsatz von Nebensätzen? Können Rückschlüsse auf die dominante Grundmotivation des Autors gezogen werden? Oder auf seinen bevorzugten Wahrnehmungskanal? All das sind Fragen, die es zu beantworten gilt. Sehr vereinfacht ausgedrückt, wird jedes Wort und jedes Zeichen aus dem anonymen Tatschreiben, mit jedem Wort und jedem Zeichen aus den Vergleichstexten abgeglichen. Am Ende haben wir jede Seite mindestens 50 oder 60 Mal gelesen. Wenn dann in einem der Vergleichstexte dieselben Muster auftauchen wie im anonymen Text, dann haben wir unseren Täter.
Erst entlasten, dann belasten
Bei unseren Analysen suchen wir nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Genaugenommen zuerst nach Unterschieden und dann erst nach Gemeinsamkeiten. Denn im deutschen Straf- und Strafprozessrecht gilt grundsätzlich die Unschuldsvermutung. In dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten. So lange, bis das Gegenteil bewiesen ist. Darum auch unser Credo: Erst entlasten, dann belasten! Sonst könnte uns auch unser Unterbewusstsein einen Streich spielen. Denn unser Gehirn ist so gebaut, dass es immer nach Bestätigungen für seine eigenen Überzeugungen sucht. Wenn ich davon ausgehe, dass der Verdächtige sicher der Täter sein muss, dann nehme ich die belastenden Merkmale deutlicher wahr, die entlastenden Merkmale weniger. Und das darf nicht sein. Um mit der gebotenen Objektivität vorzugehen, prüfen wir deshalb im ersten Schritt immer, ob der Verdächtige als Täter auszuschließen ist. Und das passiert in der Praxis gar nicht so selten. Am häufigsten dann, wenn unser Aufraggeber am wenigsten damit gerechnet hat.
Gemeinsamkeiten & Unterschiede
Wenn man Texte mit Texten vergleicht, findet man immer gewisse Gemeinsamkeiten. Und seien es nur Wörter wie „der“, „die“, „das“ und „oder“. Aber auf solche Allgemeinplätze kommt es beim Sprachprofiling in der Regel nicht an. Auch gewisse Unterschiede finden sich immer. Wenn im Tatschreiben formuliert ist „… dann bringe ich dich um!“, werden Sie in den Vergleichstexten vermutlich lange nach einer entsprechenden Fundstelle suchen. Aber auch dieser Unterschied spielt wenig Rolle. Denn die Kunst ist es, Muster zu identifizieren, die eine wirkliche Aussagekraft haben, weil sie signifikant und besonders typisch für den Täter sind. Und noch wichtiger: weil sie systematisch vorkommen. Also regelmäßig. Und im besten Fall ausnahmslos.
Muster erkennen, auf die kein Mensch achtet
Erst wenn wir einen möglichen Verdächtigen nicht als Autor ausschließen können, dann erfolgt die Belastungsprozedur. Also die Suche nach Gemeinsamkeiten. Gemeinsamkeiten zwischen Tattext und Vergleichstexten. Der eine verwendet zum Beispiel, genau wie der anonyme Täter im Fall Rötgen, regelmäßig Formulierungen wie “bis dato”, während der andere im selben Kontext eher Synonyme wie “bislang”, „bisher“ oder „bis heute“ nutzt. Oder der eine wählt regelmäßig Konstruktionen mit „seit“, der andere mit „seitdem“. Der eine mit „stets“, der andere mit „immer“. Genauso ist es mit darum/daher/deshalb/deswegen, warum/weshalb/wieso, da/weil, bereits/schon, dies/das, selber/selbst, ebenso/ebenfalls und mit tausenden anderen. Solche Auffälligkeiten können sich nicht nur durch Texte ziehen, sondern mitunter sogar durch ein ganzes Leben. Wenn der Sprachprofiler in der Lage ist, vier bis fünf solcher Muster zu erkennen, entsteht so langsam ein Bild. Wobei der Abgleich der Wortwahl nur die einfachste von mehreren sprachlichen Ebenen ist.
Signifikant & systematisch
Analysiert wird dann bis tief in die Feinheiten der Grammatik von Haupt- und Nebensätzen. Grundsätzlich suchen wir dabei Normabweichungen vom Standard-Deutschen. Systematisch auftauchende Fehler haben die höchste Aussagekraft. Natürlich muss auch hier genau differenziert werden. Versehentliche Fehler und Flüchtigkeitsfehler interessieren nur wenig. Auch Fehler bei der Kommasetzung oder bei der Wahl von scharfem- oder doppeltem S, sind so verbreitet, dass die Aussagekraft eher gering ist. Wenn jemand das Wort nämlich mit H schreibt, wird es schon spannender. Vor allem, wenn er es immer tut. Beispiele werden Sie in diesem Buch in Hülle und Fülle finden. Dabei kommt es auf die Kombination vieler einzelner Merkmale an. Nur so entsteht ein Muster. Entscheidend ist, ob diese Fehler Einzelfälle sind, oder ob sie regelmäßig auftauchen. Für den Sprachprofiler ist am interessantesten, was signifikant ist, typisch für den anonymen Autor und was systematisch vorkommt.
Natürlich geht es geht nicht nur um Rechtschreibung. Auch andere Auffälligkeiten, die aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine Fehler darstellen, können zum Täter führen. Je höher der Abweichungsgrad gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch, desto höher ist die Aussagekraft. In keinem Fall darf der Sprachprofiler von sich ausgehen, und sich selbst zum Maßstab machen. Für die Frage, was allgemeiner Sprachgebrauch ist, oder was nicht. Was normal ist, oder auffällig. Auch hier hilft ein Blick in die Datenbanken.
Praktisches Vorgehen bei den Textermittlungen
Zurück zum Fall: Bei der LithioNanoTec AG war der erste Kreis der in Frage kommenden Verdächtigen überschaubar. Das dem Erpressungsschreiben beigefügte interne Dokument lag in einer Version vor, auf die lediglich fünf Personen aus dem Management, sowie drei Mitarbeiter aus der IT-Abteilung Zugriff gehabt haben konnten. Von diesem Personenkreis wurden Vergleichstexte beschafft. Das Erpressungsschreiben selbst bot keine weiteren Interna, über die der Kreis der möglichen Täter hätte noch weiter eingegrenzt werden können. Auch Schreibkräfte und Assistenten von Führungskräften konnten ausgeschlossen werden.
Die LithioNanoTec AG hatte sich für Ermittlungen mit offenem Visier entschieden. Um alle zu Unrecht in Verdacht geratenen Führungskräfte und Mitarbeiter schnell zu entlasten, wurde von allen das Einverständnis für den Abgleich aktueller Textdokumente mit dem Tatschreiben eingeholt. Durch die gezielte Suche nach entlastenden Merkmalen konnten sechs der acht Personen sofort mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Bei den verbleibenden Beiden wurden aufwändigere Analysen gefahren. Dadurch konnte sehr schnell ein weiterer Mitarbeiter vom Verdacht befreit werden. Der andere blieb im Rasta hängen …
Die Treffsicherheit der Sprachprofiler
Im Optimalfall wird der Befund einer sprachwissenschaftlichen Textanalyse zusätzlich durch andere, unabhängige Beweismittel gestützt. In den letzten Jahrzehnten gab es jedoch auch regelmäßig rechtskräftige Urteile, bei denen die Sprachanalyse das einzige Beweismittel war und die volle Beweislast getragen hat. Unter anderem bei Urteilen von Arbeits-, Amts- und Landesgerichten, aber auch bei Oberlandesgerichten. Ergebnisse die von einer 99,999-Prozent-Wahrscheinlichkeit sprechen, wie bei der Analyse von Fingerabdrücken oder DNA sind im Bereich der Sprachanalyse nicht möglich. Unter günstigen Umständen ermöglicht die Sprachanalyse aber dennoch eine sehr hohe Genauigkeit bei der Zuordnung. Eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit ist Teil jedes Gutachtens. Sollte eine verdächtige Person als Täter in Frage kommen, bestimmen wir den Grad der Wahrscheinlichkeit: Die Identität des Urhebers ist wahrscheinlich/mit hoher Wahrscheinlichkeit/mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Oder auszuschließen. In extrem ungünstig gelagerten Fällen kommt es auch vor, dass ein Befund nicht möglich ist. Aber das ist eher die Ausnahme als die Regel.
Beweisführung mit Buchstaben
Ralf Rötgen hatte für drei der Mitglieder seiner Geschäftsleitung die Hand ins Feuer gelegt. Zu den anderen beiden hatte er in dieser Angelegenheit „kein Gefühl“. Sein erster Verdacht ging auch eher in Richtung der IT-Abteilung. Dort vermutete er das Leck. Die Beweisführung des forensischen Textanalyse überraschte ihn umso mehr: Als Autor des anonymen Schreibens konnte einer seiner Bereichsleiter identifiziert werden. Ein alter Wegbegleiter, ein eigentlich sehr verdienter Mann, der im Unternehmen eine steile Karriere hingelegt hatte. In den letzten Jahren war er ruhiger geworden. Zuletzt hatte er mehr verwaltet als gestaltet. Ralf Rötgen war seit längerem aufgefallen, dass der Kollege sich zu aktuellen unternehmerischen Themen nicht mehr so klar positioniert und geäußert hatte. Dennoch war er davon ausgegangen, dass er als gehobene Führungskraft die Unternehmensstrategie mitträgt.
Der Bereichsleiter, der sonst flüssige, grammatikalisch ausgereifte Schriftsätze in einem gehobenen Deutsch verfasste, hatte im anonymen Schreiben seine Sprache absichtlich verstellt. Neben der für anonyme Schreiben typischen Wir-Form hatte er beispielsweise, abweichend von seinem üblichen Stil, besonders häufig einzelne Wörter in Anführungszeichen gesetzt und stellenweise für ihn unübliche Formulierungen verwendet. Anhand von sechsundzwanzig (!), teilweise sehr starken Hinweisen, ergab sich dennoch ein erdrückendes Bild. Im Fachjargon: Bewertungsstufe +3. Seine Urheberschaft ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Beispielhaft finden Sie hier fünf der Merkmale, in verkürzter Form dargestellt:
Verstärkung von Komparativen durch Voranstellung des Adverbs „immer“: Im Tatschreiben, z. B.: „Dadurch wird unsere Lage nicht besser, sondern immer ernster.“. Die Vergleichstexte zeigen, dass auch der Bereichsleiter diese Verstärkung regelmäßig verwendet, z. B. „immer schöner“, „immer schlimmer“, „immer schneller“, „immer besser“.
Adverb „sonst“ zur Einleitung einer Drohung im nachgestellten Nebensatz: Im Tatschreiben, z. B.: „Geben Sie Ihre diesbezüglichen Pläne besser auf, sonst sehen wir uns gezwungen …“. Die Vergleichstexte zeigen, dass auch der Bereichsleiter entsprechende Konstruktionen systematisch verwendet, z. B. „Bitte behandeln Sie dieses Angebot vertraulich, sonst müssen wir es zurückziehen.“. Verworfen werden gleichwertige Optionen wie „ansonsten“, „andernfalls“ oder „Falls/Wenn/Sofern nicht, …“.
Regelmäßige Verwendung der Präpositionalphrase „in Kürze“: Im Tatschreiben, z. B.: „… Sie stehen kurz davor …“, „… in Kürze der Belegschaft zugänglich machen …“. Die Vergleichstexte zeigen, dass auch der Bereichsleiter regelmäßig die Präpositionalphrase „in Kürze“ verwendet, z. B.: „in Kürze unter vier Augen sprechen“, „in Kürze durchliest“, „erzähle ich es dir in Kürze am Telefon“. Synonyme wie „(als)bald“, „sogleich“, „zeitnah“, „zeitig(st)“, „frühzeitig“, „schnell“, „umgehend“, „demnächst“ oder Ähnliches verwendet er kaum.
Nie Leertaste/Abstand vor Fortsetzungszeichen „…“, also „xxx…“, statt „xxx_…“: Im Tatschreiben, z. B.: „… der strahlende Saubermann…“, „… Damit ist dann wohl alles gesagt…“. Nach der Briefnorm DIN 5008 gehört vor und nach jedes Auslassungszeichen ein Leerzeichen. Die Vergleichstexte zeigen, dass auch der Bereichsleiter an entsprechenden Stellen niemals das Leerzeichen vor Fortsetzungszeichen setzt, z. B. „wird sich dann zeigen…“.
Häufige Verwendung bildhafter Begriffe und Redewendungen: Das Tatschreiben ist voller bildhafter Begriffe, z. B.: „… bilderbuchhaften „Karriere“ …“, „… eine Spielwiese schaffen …“, „… die Braut hübsch gemacht …“, „… strahlender Saubermann …“, „Das Wasser steht uns bis zum Hals“. Die Vergleichstexte zeigen, dass auch der Bereichsleiter besonders häufig bildhafte Begriffe und Redewendungen verwendet, z. B. „den Karren aus dem Dreck ziehen …“, „Sturm im Wasserglas …“.
Wenn Sie sich jetzt fragen, ob es das schon gewesen sein soll, lautet die Antwort selbstverständlich nein. Mit einer Hand voll solcher Merkmale ist noch kein Täter überführt. Aber in etwa so beginnt die Beweisführung oft. Wer hofft, in anonymen Schreiben auf den ersten Blick eine Kombination aus ungewöhnlichen Fehlern und sich aufdrängender Besonderheiten zu finden, der wird enttäuscht. Dieser beispielhafte Auszug zeigt fünf unterschiedliche Merkmale auf fünf unterschiedlichen Analyseebenen. Von der einfachen Wortwahl, über die Zeichensetzung bis hin zur Sprachpsychologie. In Summe gab es sechsundzwanzig Auffälligkeiten, die sowohl im anonymen Schreiben, als auch in den Vergleichstexten des Bereichsleiters vorkamen. Oft finden wir dreißig Merkmale und mehr. Die große Kunst ist es, die Merkmale so herauszuarbeiten, dass auch jemand, der sich nicht jeden Tag mit Sprachprofiling, Linguistik und forensischer Textanalyse beschäftigt, trotzdem ein klares Bild bekommt. Nur so haben unsere Auftraggeber, deren Krisenstäbe und letztendlich dann auch der Richter die Bewertungsgrundlage, die sie brauchen, um ihre eigenen Entscheidungen richtig zu treffen.
Der Bereichsleiter wurde in einem Sechs-Augen-Gespräch mit den Befunden und dem erdrückenden Ergebnis der Analyse konfrontiert. Nach vierzig Minuten brach er ein und gestand den anonymen Brief geschrieben, und am Flughafen München in den Briefkasten geworfen zu haben. Bei ihm waren zwei Motive zusammen gekommen. Frustration über die aktuelle Situation, aber auch verletzte Eitelkeit nach einer Auseinandersetzung. Seine Verletzung hatte so tiefe Wunden hinterlassen, dass er das Schreiben zwar eingestand, jedoch keine Reue zeigte. Aber offensichtlich war er ein guter Verhandler. Denn statt einer Kündigung konnte er in der Woche darauf einen Aufhebungsvertrag unterschreiben. Das unschöne Ende einer jahrelangen Zusammenarbeit.
Der anonyme Täter ist identifiziert und überführt, der Einsatz der Text-Taskforce damit erfolgreich beendet. Der große Gewinn für Ralf Rötgen war, dass er sensible Themen nun wieder mit seinen Sparringspartnern diskutieren konnte. „Im Grunde bin ich erleichtert, dass nur er es war. Jedes andere Szenario wäre schlimmer gewesen …“, war sein Resümee.
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