Geld oder Leben: Anonyme Briefe im Stuttgarter Tatort
„Ich will drei Millionen Euro.“ Am 24. Mai 2020 zeigte die ARD den Stuttgarter Tatort „Du allein“. Ein Erpesser, ein Drohschreiben und eine hohe Geldforderung. Alles was ein guter Krimi braucht. Die Stuttgarter Kriminaler bedienen sich aller möglichen Ermittlungsmethoden, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Unter anderem auch der forensischen Linguistik. Die Sprachprofiler des Institutes für forensische Textanalyse machen den Realitäts-Check:
Die anonymen Briefe eines unberechenbaren Täters
„1“. Mehr steht nicht in dem Schreiben, das an „Die Ermittler im heutigen Mordfall“ adressiert ist. Was man für einen Scherz halten könnte, wird für die TV-Kommissare Thorsten Lannert und Sebastian Bootz bald zur grausamen Realität. Denn noch am selben Vormittag wird eine Frau auf offener Straße erschossen. Ein zielgerichteter Weitschuss, offensichtlich von einem versierten Schützen; auf der Patronenhülse ist eine „1“ eingraviert. Mehr Indizien gibt es zunächst nicht. Die Ermittler ahnen bereits Böses und sollten Recht behalten:
Der zweite anonyme Brief im Stuttgarter Tatort „Du allein“ der ARD am 24.05.2020. Foto: ARD Mediathek
Der anonyme Erpresserbrief
Ich will drei Millionen Euro.
Sollten Sie die Zahlung verweigern, erschieße ich in dieser Stadt einen Menschen nach dem anderen.
Zufällige Opfer, bis keiner mehr übrig ist.
Wenn Sie zahlen, wird es keine weiteren Toten geben.
Bestätigen Sie die Zahlung, indem Sie morgen eine Anzeige in den Stuttgarter Neuesten Nachrichten mit folgendem Text schalten. „Lasst uns leben!“
Danach erhalten sie weitere Informationen.
Der klassische Zugriff: Kriminaltechnische Untersuchungen
Ein ganzes Team an Ermittlern stürzt sich auf die Briefe, um sie kriminaltechnisch zu untersuchen. Fingerspuren werden gesichert, nach Faser- und DNA-Spuren gesucht. Auch individuelle Spuren des verwendeten Druckers können sichtbar gemacht werden: Offensichtlich handelt es sich um ein ältereres, aber professionelles Modell, vermutlich Inventar eines Büros. Vom Täter gibt es jedoch noch keine Spur.
Dunkle Erinnerungen werden wach. Von 1988 bis 1994 erpresste ein Mann unter dem Pseudonym „Dagort“ Kaufhäuser, wie das KaDeWe in Berlin oder Karstadt-Filialen in Bremen, Hannover und Bielefeld. 5 Bombenanschläge, einen Brandanschlag und 30 gescheiterte Geldübergaben später konnte der Mann erst überführt werden. Das wollen die Ermittler um jeden Preis verhindern.
Der Ansatz der Sprachprofiler
Dann werden Stil, Grammtik und Wortschatz unter die Lupe genommen. Ein Ermittler formuliert folgendes Autorenprofil: Der Täter sei deutscher Muttersprachler und mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Umgebung von Stuttgart aufgewachsen. Er oder sie hat durchschnittliche Bildung, mittlere Reife, möglicherweise auch Abitur. Der Schreiber sei zu „53 Prozent männlich, zu 47 Prozent weiblich“, so der Beamte Schneider.
Unser Realitäts-Check
Tatsächlich lassen sich aus anonymen Briefen oft Rückschlüsse auf die Person und die Persönlichkeit des Täters ziehen. Aussagen zur Muttersprache, regionalen Herkunft und zum Bildungsgrad ebenso, wie beispielsweise zu Geschlecht und Alter. Dazu müssen eine Vielzahl größtenteils sehr subtiler Hinweise erkannt und gegeneinander abgewogen werden. Denn es gibt keine per se männliche oder weibliche Sprache! Genauso wenig gibt es eine exakt definierte ältere oder jüngere Sprache. Dennoch lassen die Analysen eines versierten Sprachprofilers oft ein erstaunlich treffsicheres Bild enstehen.
Zu 100 Prozent ein No-Go
Ein durch Sprachprofiling erstelltes Täterprofil muss als „Arbeitshypothese“ bewertet werden und darf keinesfalls, wie im Stuttgarter Tatort, in Prozentzahlen ausgedrückt werden! Anders als in der Naturwissenschaft handelt es sich bei linguistischen Analysen um sogenannte „weiche Wissenschaft“. Der Untersuchungsgegenstand ist der Mensch, seine Sprache, seine Psyche und sein Sozialverhalten. Und diese Parameter lassen sich nicht in abolute Zahlen zwängen. Aus wissenschaftlicher Sicht ein absolutes No-Go. Denn Prozentzahlen suggerieren dem linguistischen Laien einen Grad an Objektivität, der in der Praxis nicht derart gegeben ist. Diese Grundregel gilt übrigens nicht nur für die forensische Linguistik, sondern für alle Gutachten in den Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Psychologie.
Die gutachterliche Bewertungsskala für vergleichende Sprachgutachten
Sehr viel stärker belastbare Aussagen können Sprachprofiler bei vergleichenden Sprachanalysen treffen. Wenn zum Beispiel ein anonymer Brief mit Vergleichstexten von möglichen Verdächtigen abgeglichen wird. Signifikante sprachlicher Muster, die in beiden Textgruppen systematisch vorkommen, haben die stärkste Aussagekraft.
Wir am Insitut für forensische Textanalyse arbeiten deswegen mit einer wissenschaftlich etablierten Skala, um unsere Ergebnisse auszudrücken. Diese Skala wird auch vom Bundeskriminalamt im Fachbereich Autorenerkennung genutzt:
Die zu vergleichenden Texte stammen …
+/-4: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
+/- 3: mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
+/- 2: mit hoher Wahrscheinlichkeit
+1/-1: wahrscheinlich… von einem gemeinsamen Autor.
Zudem gibt es die gutachterliche Stufe 0 (non liquet). Das beudetet, dass nicht beantwortet werden kann, ob beide Texte von einem gemeinsamen Autor stammen.
Wie die Ermittler aus Stuttgart trotz dieser schwierigen Ausgangslage dem Täter auf die Spur kommen, erfahren Sie in der ARD-Mediathek.
Weitere Informationen zum Institut für forensische Textanalyse
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